III. Schriftrolle

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Für alle meine Gedanken und Handlungen gibt es einen Grund, nämlich die Erwartung eines für mich günstigen Ergebnisses. Wenn ich Tagträume, erwarte ich vielleicht, der Langeweile zu entgehen oder zu erleben, dass meine Vorstellung Wirklichkeit wird. Vielleicht erwarte ich tieferes Wissen, Bewusstsein oder gesteigertes Denkvermögen. Oder ich mache mir Sorgen, um mich davon zu überzeugen, dass ich ein verantwortungsbewusster Mensch bin. Es gibt die verschiedensten Wünsche und Erwartungen, sogar solche,die ich nicht gerne eingestehen möchte. Manchmal bin ich getrieben vom Wunsche nach Geld und Besitz; dann sind meine Gedanken und Handlungen darauf gerichtet. Ich mag getrieben sein durch ein Bedürfnis nach Applaus und Zustimmung. Ich möchte den anderen gefallen. Oft bin ich durch den Drang motiviert, recht zu haben. Ich mag es gar nicht, dass meine Ansichten und Handlungen als falsch eingestuft werden. Manchmal ist der Wunsch nach Vergnügen die Triebfeder; das Leben soll mir etwas bieten und mich befriedigen. Doch der stärkste Antrieb für meine Gedanken und Handlungen ist meine Sehnsucht nach Liebe. Wenn ich mich geliebt weiß, habe ich wenig Verwen- dung für Geld. Manchmal gibt es mir zwar ein Gefühl der Sicherheit, aber nichts entfernt so nachhaltig, wie es die Liebe vermag.

 

Wenn ich mich geliebt weiß, brauche ich Applaus und Zustimmung nicht; Liebe ist an sich schon Beifall und Zustimmung. Wenn ich mich geliebt weiß, brauche ich nicht recht zu haben. In Gegenwart eines Menschen, der mir seine Liebe schenkt, brauche ich mich meiner Fehler nicht zu schämen; ich schätze es sogar, wenn er mich liebevoll auf sie aufmerksam macht. Wenn ich mich geliebt weiß, gibt es für mich kein größeres Vergnügen; andere Vergnügen sind fade oder lediglich ein Mittel, meiner Liebe Ausdruck zu verleihen und Liebe zu erleben. Nichts befriedigt tiefer als Liebe.

 

Wenn ich mich geliebt weiß, so bin ich zufrieden, jedoch nicht selbstgefällig. Ich werde weiterhin zu Gedanken und Handlungen angetrieben, habe Ziele, Ideale, sogar Ehrgeiz. Aber meine Ziele und mein Ehrgeiz sind nicht mehr Ausdruck der Unsicher- heit; ich brauche niemandem mehr etwas zu beweisen. Wenn ich mich geliebt weiß, sehe ich mich zu liebevollem Handeln veranlasst Ziele und Ehrgeiz sind Ausdruck meines Bedürfnisses, Freude zu geben und zu teilen. Liebe ist eine Überlebensfrage. Ich brauche Liebe oder einen Liebesersatz, buchstäblich um überleben zu können. Viel zu viele Menschen sind aus Mangel an Liebe gestorben. Für Liebe gibt es mannigfaltigen Ersatz: Macht, Geld, materiellen Besitz, Popularität und Ruhm. Sogar Abscheu und Hass sind Liebesersatz. Jede Form markanter Beachtung kann als Liebesersatz dienen. Liebesersatz befriedigt indessen nicht wirklich. Bestenfalls bietet er nur zeitweilige Betäubung und ruft wie ein Rauschgift nach Steigerung.

 

Ist Macht mein Liebesersatz, so brauche ich heute mehr davon als gestern. Das gleiche gilt für Geld, Hass, Mitleid und alle anderen Formen markanter Beachtung, mit Ausnahme der Liebe. Alle Menschen wollen das Gefühl haben "es macht etwas aus, dass ich lebe." Deshalb halten wir alle Ausschau nach Bestätigungen und Zeichen,aus denen wir schließen können, dass "es etwas ausmacht, dass ich existiere." Jede zugefügte Unbill, jeder Streit und jeder Krieg ist Ausfluss des Hungers nach Anerkennung der Tatsache, "dass ich etwas ausmache." Jedes jemals begangene Verbrechen ist die Folge dieser Lebensnotwendigkeit. Der Verbrecher sagt sich im innersten Herzen, "ich mache etwas aus, und wenn mir diese Gewissheit nicht gütlich zuteil wird, so werde ich euch zeigen, dass man mit mir zu rechnen hat. Selbst Völker hegen diesen gemeinsamen Gedanken: "Mit uns hat man zu rechnen.“ Und wenn eure Worte und Handlungen dies nicht zum Ausdruck bringen, so töten wir eure jungen Männer, wie wenn es auf sie nicht ankäme, und das wird euch veranlassen zu erkennen, dass man mit uns zu rechnen hat. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung der Tatsache, dass ich wichtig bin, ist nichts anderes als der Wunsch, geliebt zu werden.