„Und dennoch gab und gibt es in allen Buchreligionen
Stockfromme und Buchstabengläubige, Wahlverwandte jenes Famulus Wagner, der nicht nach dem Geiste strebt, sondern dem, was man schwarz auf weiß geschrieben steht, den Vorzug gibt, um es getrost
nach Hause zu tragen.
Wie schützt sich dann eine Religion, die sich an ein
inspiriertes Schrifttum gebunden hat, vor der Gefahr der theologischen Arterienverkalkung?
Die rabbinische Antwort steht auf drei Beinen:
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Siebenmal wird der Leitsatz >>Durch diese
Gebote sollt ihr leben!<< im 5. Buch Mose wiederholt, wobei die Talmudväter das Zeitwort am Ende des Satzes als Aufruf zur stetigen Neuinterpretation verstehen, um der Schrift jenen
lebensfördernden Sinn abzugewinnen, der ihr Hauptanliegen ist.
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Hierzu gesellt sich die unüberbietbare Heiligkeit
des Menschenlebens – ein Prinzip, das als Leitstern der hebräischen Gesetzgebung gelten kann. Um das eigene oder ein anderes Leben zu retten oder vor mutmaßlicher Lebensgefahr zu
bewahren, können nicht nur, sondern sollen alle Gebote – bis auf drei – zeitweilig gebrochen werden. In den Worten des Talmud: >>Wer ein einziges Leben erhält, dem wird es
angerechnet, als hätte er die ganze Welt gerettet. <<
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Das dritte Sicherheitsventil gegen legalistische
Erstarrung ist die Voraussetzung, dass jedem Bibelwort siebzig Auslegungsmöglichkeiten innewohnen. Siebzig Deutungen nach der Symbolzahl der weltweiten Völkerökumene in Gen. 10, die
einander genauso ebenbürtig gegenüberstehen wie die Nationen dieser Erde. >>Alle 70 stehen gültig da vor Gott<<, so heißt ein Spruch, der alt war, als Jesus zur Welt
kam.“
-Pinchas Lapide, jüdischer
Religionsphilosoph-